The Last Summer (Empor 3)

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»Es muss ein Morgen im Sommer gewesen sein, denn es war ungewöhnlich warm. Die Sonne stand noch sehr tief. Die Luft roch sommerlich. Ja, dieser Sommergeruch, der sich nicht wirklich beschreiben lässt, weißt du? Du hast mir selbst mal davon erzählt, da war ich so neun oder zehn Jahre alt, und du warst zwölf oder dreizehn. Du hattest damals dein erstes Jahr auf der Oberschule hinter dir. Keiner konnte dich ausstehen, weil du gemein warst und mit deiner Zahnspange wirklich hässlich aussahst.«

Sie lachte. Ich musste auch lächeln. Ich hatte diesen Sommer bereits vergessen. Die Erinnerung kam warm und gütig zurück.

»Du hast diesen Sommer damals mit deinem besten Freund verbracht. Er war dein erster richtiger Kumpel. Die ganzen Sommerferien seid ihr Tag für Tag ins Freibad am Berliner Wernersee gefahren. Du mit deinem lilafarbenen Fahrrad. Was hatten sich Mama und Papa damals nur gedacht, als sie dir dieses schreckliche Ungetüm geschenkt haben? Du und dein bester Freund, ihr habt so viel Zeit miteinander verbracht, das war schon komisch. Meine Freundinnen meinten, ihr seid beide schwul. Na ja, du weißt ja, wie sie waren. Den ganzen Tag habt ihr Pommes mit Ketchup und Majonaise gegessen, Cola getrunken und diese widerlichen Push-Pops gelutscht, bei denen die Finger immer so ekelhaft vom verzuckerten Speichel verklebt wurden. Dieser fette Kumpel von deinem Freund, der mit dem Vokuhila, der so süchtig nach Videospielen und diesen Nintendo-Magazinen war, hat euch dann ständig diese Berliner Weiße mit Waldmeister-Geschmack gekauft und ich weiß, dass du da zum ersten Mal geraucht hast, denn ich habe dich dabei erwischt, wie du Zigaretten unter meinem Schreibtisch versteckt hast. Erinnerst du dich?«

Ich erinnerte mich wieder sehr deutlich daran und musste lachen. Wir hatten damals die Vietnamesen beklaut, die im Viertel, wo mein bester Freund mit seiner Mutter wohnte, West-, HB- und die filterlosen Karo-Zigaretten illegal an Minderjährige verkauften. Sie versteckten die Stangen in Aldi-Tüten auf dem Dach eines mobilen asiatischen Imbisses, wo wir uns nach der Schule Chinapfannen in Aluminium-Assietten und Krabben-Chips kauften. Wir hingen dann fast täglich am Dunker ab. Ein Hinterhof, wo die Kids Basketball zockten, im Pool skateten, sprühten und kifften. Diese Zigaretten waren wirklich eine riesengroße Verarsche. Wenn man zu stark abaschte, fiel manchmal der ganze Tabak aus der Hülse und man stand wie ein Idiot da. Ich erinnerte mich daran plötzlich sehr genau. Wenn ich lachte, hielt ich mir immer die Hand vor den Mund und wenn ich lächelte, dann mit zusammen gepressten Lippen. Wie meine Schwester schon damals richtig bemerkt zu haben schien: Ich war ein hässlicher Dreizehnjähriger mit einer festen Zahnspange.

»Jedenfalls warst du so stolz auf diese Freundschaft, dass du mir pausenlos davon erzählt hast. Du hast damals zum allerersten Mal von diesem Sommergeruch erzählt. Eine Mischung aus Freibad-Wasser, Pommes, Bier, Sonnencreme und warmen Sand.«

Ich glaube, sie hatte den Faden verloren, denn sie hielt kurz inne und schien sich in ihren Gedanken zu verlieren. Eine Welle prallte sehr stark auf die Klippe und eine Fontäne schoss mit einem lauten Krachen wie ein milchiger Vorhang in unser Blickfeld und ließ sich vom Wind wegtragen.

»Jeder scheint seine eigene Vorstellung von Sommergeruch zu haben. Jetzt weiß ich natürlich, was du damals damit gemeint hast. Also nicht erst jetzt, schon seit langer Zeit, aber eben viel später als damals, als ich erst neun oder zehn war. Ich rieche andere Sachen als du, die mich aber genau dasselbe fühlen lassen. Bei mir ist dieser Sommergeruch auch etwas Charakteristisches, etwas, dass ich aber nicht nur an den Geruch einer Sache festmachen kann, sondern auch an das, was passiert ist. Als ich auch dreizehn wurde, hatte ich doch diese Terry-Pratchett-Phase. Ich bin dann immer mit meinem Fahrrad ins Naturschutzgebiet bei uns in der Nähe geradelt und habe auf der großen Wiese am Rande des Waldes in der Sonne gelegen und seine Romane gelesen. Ja, die kleine Schildkröte Om. Ich glaube, Small Gods war mein Lieblingsroman von ihm, hach. Na ja, und als ich dann nachmittags nach Hause gefahren bin, habe ich meine Hände vom Lenker genommen und bin freihändig gefahren. Und dann habe ich an meinem Unterarm gerochen. Er roch nach Schweiß, etwas süßlich von der Sonne und der Wärme. Das war mein Sommergeruch. Auch als ich erwachsen geworden bin; ich rieche bis heute an meinem Unterarm wenn es warm ist. Und was ich da rieche, macht mir ein gutes Gefühl. Sommergeruch, ha, das hast du wirklich gut gemacht, also dass du mir damals davon erzählt hast.«

Genau wie ich, hatte Lia den Hang abzuschweifen. Ich verlor mich in ihrer Erzählung und sie selbst tat das anscheinend auch. Und obwohl ich spürte, dass sich die Zeit auflöste und damit auch wir, lauschte ich ihren klaren Worten, folgte ihren Bildern, ihren Erinnerungen, die auch meine waren. Ich fühlte mich nicht nur ihr, sondern auch mir selbst wieder sehr nahe. Das war Etwas, das mir lange verborgen blieb. Vielleicht war es auch etwas, dass jeder Mensch irgendwann verliert, nicht absichtlich, aber ja doch, dann sind die Taschen leer und man weiß partout nicht mehr, was einmal darin war. Seine eigene Nähe auf ewig zu spüren, dachte ich kurz, ist wohl einfach nicht drin. Aber vielleicht hilft es einem, zu wissen, dass Andere diese Aufgabe übernehmen können. Egal wie. Erinnerungen waren ein guter Anfang. Als ich zum Beispiel nach ihrem Tod mit meinen Eltern ihre Wohnung betrat und wir ihr Hab und Gut einpackten, war das Merkwürdigste und auch Schmerzhafteste, dass es ihr nicht nur gehörte, sondern ihr auch mal etwas bedeutete. Jeder kleine Gegenstand, den sie irgendwann mal in den Händen hielt und sich mit ihm beschäftigte. Und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Ihre Pflanzen, welche jedes Zimmer in der Wohnung pflasterten, waren völlig vertrocknet und eingegangen. Sie musste lange bevor sie uns und diesen Planeten verließ, aufgehört haben, sich um diese zu kümmern. Als ich durch ihre Zimmer schritt, hat es nach ihr gerochen. Man kennt das ja: Jemand lebt jahrelang irgendwo und hinterlässt seinen eigenen Geruch, den man überhaupt nicht beschreiben kann, ganz anders als den Sommergeruch, von dem sie gerade spricht. In ihren eigenen vier Wänden ist mir ihr Geruch vielleicht sogar das erste mal aufgefallen und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Ich erwähnte das auch nicht bei der Beerdigung, als sich unsere Familie und ihre Freunde in der kleinen Kapelle versammelten und ich eine Rede vortrug. Ich habe es versucht, aber ich hatte einfach keine Worte dafür.

Während meine Eltern in einem anderen Zimmer zusammen einen Karton auffalteten, ihre Blicke sich flüchtig streiften und sie begannen, wahllos Bücher aus ihren Regalen und Schränken darin zu verstauen, stand ich einfach nur da und entdeckte ihren Geruch. Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht liegt die wahre Tragödie des Abschieds und des Überwindens genau in solchen Banalitäten: Dinge, bei denen man sich – wenn es zu spät ist – fragt, warum man nie darüber gesprochen hat.