La vie

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Langsam rann der Schweiß an meinen Schläfen hinab, kroch über die Jochbeine und blieb schließlich in den Bartstoppeln hängen. Unter meinem Haaransatz pochte eine unter Anstrengung vorgetretene Vene rhythmisch vor sich hin; Talg glänzte auf meiner Stirn im Tageslicht, das durch das Treppenhausfenster in der Dachschräge zu meiner rechten auf mich fiel. Der Tag war noch jung und schwül.

Vor dem Fußabtreter stand ich leicht tuntig in der Hocke und verhalf mir mit einem weiß-schimmernden Schuhlöffel in die frisch polierten schwarzen Berluti-Schuhe, die mir mein Großvater vor einigen Jahren vermacht hatte, und seitdem unbenutzt in einer Schuhschachtel in einem Fach meines Kleiderschrankes lagen.

Ich trug den besten Anzug, den ich hatte.

Als ich mich wiederaufrichtete, griff ich mit beiden Händen an den Krawattenknoten; kontrollierend, richtend und lockernd. Sanft tastete ich mit den Fingerkuppen über die Spitzkragenflügel meines weißen, gebügelten Hemdes und steckte meinen Zeige- und Mittelfinger problemlos zwischen Hals und den obersten Knopf. Ich hatte seit Monaten stark abgenommen, vermutlich an die zwanzig Kilogramm.

Während ich noch wenige Augenblicke zuvor im Badezimmer vor dem Waschbecken und der weiß-gefliesten Ablage auf einer elektronischen Glaswaage stand, blitzten immer wieder Sonnenstrahlen durch das angekippte Fenster zwischen dem Duschvorhang auf und reflektierten schwach auf der verkalkten, mit Wasserflecken besprenkelten Mischbatterie der Badewanne. Draußen hörte man Tauben im Hinterhof flattern, auf dessen quadratischem Grundriss von höchstens hundert Quadratmetern ein paar Mülltonnen überquollen. Eine Plane schützte eine alte, ockerfarbene Simson vor Regen, der sich in den Falten des Überwurfs sammelte und grüne Algenflecke hinterließ.

Ich starrte auf das Display vor meinen Zehenspitzen: zweiundsechzig Kilogramm. Wie von einem Pendel getragen, schwankten meine Augen zwischen der blinkenden Sechs und der blinkenden Zwei hin und her. Sechs und zwei. Zweiundsechzig. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich mein Blick und fror erneut vor meinem Spiegelbild ein. Dieser Blick, er kam mir so vertraut vor; er zeugte von einer ganz fein granularen Fremdheit, die an mir haftete wie Dreck, der sich nicht aus den Kleidern klopfen ließ.

Ich sah flüchtig und verloren aus, wie eine wacklige Angelegenheit. Die hohlen Wangenknochen erinnerten mich ein bisschen an eine der frühen Radierung von Picasso, Le repas frugal, die ich durch einen Ausstellungskatalog der Humboldt-Universität zu Berlin entdeckte. Aus einem mir nicht näher bekannten Grund interessierte ich mich damals für die Blaue Periode Picassos. Wie magisch angezogen, saß ich Abend für Abend im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum und suchte in endlos vielen Bildbändern nach irgendetwas, bei dem ich hoffte, es würde mir Antworten geben. Meine Augen tasteten Seite um Seite ab; verloren sich in den vielen Details. Während ich mich durch die Bildbänder blätterte, stieß ich auf eine Abbildung des Gemäldes La Vie aus dem Jahr 1903 und erschrak davor.

Es zeigt ein so gut wie unbekleidetes junges Paar, das vor einer Frau steht, die bekleidet mit einer weißen Bluse und einem lang fallendem Gewand ein in ein weißes Tuch gewickeltes Baby in den Armen hält.

Ich sah dem jungen Mann, auf diesem Gemälde irgendwie sehr ähnlich, dachte ich mir damals. Nur etwas ausgemergelter noch.

Zwischen meinem Spiegelbild und der Außenwelt herrschte eine eigenartige Symmetrie, in der jede Störung wie eine kleine Verzierung den Hintergrund ausschmückte.

Der Duschvorhang flatterte ein wenig durch die Zugluft, die unbemerkt durch den Fensterspalt in meiner Wohnung von Zimmer zu Zimmer pfiff. Das Fenster zur Welt; es schämte sich für das, was es war.

Dann band ich meinen schwarzen Schlips, passend zu meinem Anzug, und schaute meinem Spiegelbild abwesend in die Augen. Der Wasserhahn tropfte leise vor sich hin und meine Augenringe perfektionierten diese unlesbare Komposition in meinem Gesicht. Mechanisch zog ich den Knoten nach oben und klappte den Kragen meines Hemdes darüber. Ich zog die Wohnungstür hinter mir ins Schloss und schlängelte mich abwärts durch das Treppenhaus von Etage zu Etage, immer eine Hand am blau lackierten Treppengeländer. Ich glaube, ich hatte etwas zu erledigen.