Er hatte sich dazu entschlossen, nicht direkt aus Deutschland nach Afghanistan zu fliegen, sondern von Zagreb aus. Während des Fluges von Berlin nach Zagreb befreite er sein schwarzes Notizbuch, das er vor drei Jahren in Bosnien auf einem Markt gekauft hatte, von der Klarsichthülle. Sein Blick schweifte durch das kleine Fenster auf die Wolkendecke und den blauen Horizont. Nichts anderes war zu sehen. Mit einem schwarzen, abgekauten Kugelschreiber begann er zu schreiben:
„Himmel bedeutet irgendwo zu sein. Ich erinnere mich, ihr das gesagt zu haben, als sie Angst hatte. Der Regen kam und wir verspürten beide kurz Hoffnung, dass es stimmt. Dass wir existierten. Nur kam der Regen aus dem Nichts. Wie ihre Angst, wie ihr Weinen. Damals hörte ich auf zu scherzen, hörte auf ihr Mut zu machen. Ich fühlte mich nicht gut. Wie ein Clown mit dem die Tränen kamen.“
Die Stewardess brachte ihm einen Whisky. Noch einen und noch einen. Er schlief ein, wachte während der Landung wieder auf und schlafwandelte mit seinem Handgepäck zum Ausgang. Das schwarze Notizbuch vergaß er. Es war ihm während er träumte aus den Händen geglitten und unter seinem Sitz liegen geblieben.
„So in zwei Wochen nach Kabul, ginge das?“, fragte er die Kleine am Terminal und sie lächelte ihn von unten an.
„Nach Kabul in zwei Wochen ist kein Problem“, antwortete sie. Ihr Lächeln war bittersüß. Er verließ die Flughafenhalle in Zagreb und trampte innerhalb von zwei Tagen bis südlich von Dubrovnik zu einer kleinen Hafenstadt namens Cavtat. Für 400 Kuna mietete er sich ein kleines Zimmer mit Blick auf den Hafen. Ein paar Jungs spielten Wasserball, die Sonne drückte und ein paar tote Fliegen lagen auf dem Fensterbrett. Er stieg aus der schäbigen Duschkabine und ließ sich klitschnass wie er war auf das Bett fallen. Staub wirbelte auf und trieb wie Pollen durch das Licht, das sich durch die Gardinen kämpfte. Das Geräusch eines Motorrollers dröhnte am Fenster vorbei, man hörte ein Kind schreien. Seine Blicke wanderten durch das Zimmer, berührten kurzweilig und schüchtern den Verfall. Er dachte an die Kleine vom Terminal, an Afghanistan und er fühlte sich wie eine Fotografie von Natacha Merritt: Neugierig beobachtet, kaum zu kategorisieren, alleine, digitalisiert, absolut entfernt und unglaublich fremd. Blicke, die ihm verrieten, dass es nicht für jedes Rätsel eine Auflösung geben konnte.
Die kroatische Gastfreundschaft kam ihm sehr gelegen. Zweimal täglich klopfte die alte Dame, die ihm das Zimmer überließ, an die verzierte Holztür und gab ihm Wasser, Tomaten, Brot, Travarica und einmal sogar einen slawonischen Fischeintopf, Slavonska riblja čorba. Ihre Gesten lehnten sein Geld stetig ab. Sie kniff ihm mit einem Lachen in die Wange, murmelte etwas auf Kroatisch und verschwand unter seinem Blick. Eine Katze sonnte sich auf der kleinen Steinterrasse, die direkt vor seiner Tür lag. Eine Woche lang lag er in seinem Bett, aß und trank und dachte daran, wie er sich langsam aber stetig verlor. In seiner letzten Nacht schlief er nicht ein und so begann er zu packen. Er legte weitere 500 Kuna auf das Kopfkissen, setzte sich ans Fenster, zündete sich eine Zigarette an und starrte in die warme, dunkle Nacht.
Sein Blick senkte sich zu seiner linken Hand und er begann zu zittern. Es roch nach Müll und man hörte im Hintergrund leise das Tropfen eines Wasserhahns. Er und der Klang von auf alter Keramik aufschlagenden Wassertropfen:
Wie ein Bedürfnis etwas trocken und leer gesaugt zurückzulassen. So wie er ab und an seine kostbare Vorstellung davon definierte, was er als dunkel empfand. So wie er sich fragte, was es zu wollen gibt, wenn etwas verdorben ist. Eine kranke Fahrt in zufällige Zufriedenheit. Er starrte in den Zufall. Ohne Emotion, wie er sich einzureden versuchte. Ein Gefühl von Scham überkam ihn, das Alleinsein überrumpelte ihn und gleichzeitig keimte das Gefühl auf, diesen schwierigen Zeiten mit Liebe zu begegnen.[1. Original, Natacha Merrit, Digital Diaries: „Needing to leave it sucked dry. As I defined once again my precious notion of what is dark. What there is to want when something is ruined. A sick drive into random. Random. Without emotion. Shameless, alone, and loving those times within it.“]
Mit dem Clown kommen die Tränen und er erschrak.
Kreidebleich schnappte er sich seinen Reiserucksack, eine Tomate und bewegte sich zur Tür. Wo er seine Zigarette fallen ließ, konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen. Irgendwo in den schmalen Gassen von Cavtat, unter Mond- und Laternenlicht verloren sich die Minuten. Er lief und lief, seine Beine wurden zittrig. Er ließ seinen Reiserucksack fallen und schaffte es gerade noch so, sich auf einen Stein zu setzen. In seiner Kehle schnürte sich alles zu. Wie ein Neugeborenes rang er nach Luft. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er atmete dreimal ein, dreimal aus. Erst jetzt begann er zu schreien.