Pierre & Ø

Allgemein

Pierre war das Kaliber Typ, das den eigenen Standpunkt mit freundschaftlichen, jovialen Ohrfeigen unterstreichen musste. Das war hart, denn jedes Mal wenn er seiner Ansicht nach den Nagel auf den Kopf traf, hatte man seine verschwitzten Griffel im Gesicht. Eine ziemlich merkwürdige und homoerotische Geste.

Pierre schüttete mir auf dem Ø festival seinen Drink in den Schritt. Es gibt sie ja, diese Menschen, die seltsame Dinge machen um in den Erinnerungen anderer einen Platz zu finden, um nicht vergessen zu werden: Im Prinzip der Gestus, wenn nach der Grenzüberschreitung nichts mehr da ist, was man erklären kann oder möchte.

Pierre nötigte mich zu einem Gespräch und erzählte mir, dass er bis heute nicht wisse, wem er aufs Maul hauen sollte. Es war nur klar, dass es passieren müsste und ich sagte »Okay«. Mich wundert in diesen Tagen ehrlich gesagt nichts mehr. Die Welt hat die verrücktesten Gestalten hervor gebracht. So schleicht die Apokalypse langsam in den Hinterhof. Eine ganz stille Invasion, awkward, aber nicht sonderlich schockierend. Vielleicht bin ich mit meiner Normalität, mit meinem Sinn für das Gewöhnliche einfach nur eine weitere Facette in der entkernten Welt der Creeps.

Seine französische Urgroßmutter hatte sich Mitte 1940 mit einem einfachen Soldaten der Wehrmacht eingelassen, fuhr Pierre fort, kniete sich vor mich, zog ein sorgfältig gefaltetes Stofftaschentuch aus seiner Tasche und rieb damit in meinem Schritt. Seine Urgroßmutter wurde schwanger. Es waren seine weichen Hände, die sie schwach machten. Ein junger Soldat mit weichen, sauberen Händen: Sie mochte dieses kleine Detail, denn es machte keinen Sinn in dieser schrecklichen Zeit. Sie verliebte sich in eine Fata Morgana, und so schwer es mir auch fiel ihm angesichts der Reiberei mit der notwendigen Aufmerksamkeit zuzuhören: Das machte Sinn.

Nach dem Krieg wurden die Dinge viel komplizierter und all die Ablehnung wurde von Generation zu Generation weiter vererbt. Pierre, der nach der Migration seiner Eltern in Mannheim geboren wurde und aufwuchs, begriff nach eigenen Aussagen nie, was er war: Deutscher oder Franzose, Geist oder Lebender, Mensch oder Monster. »Kosmopolit«, sagte er mit einem traurigen Augenzwinkern. Er zeigte auf sein Herz und gab mir die berüchtigte joviale Ohrfeige. Ich war hier, um zu tanzen. Schrecklich, wie schnell sich Augenblicke ins Reziproke stellen lassen.

»Und so trifft sich die Welt auf den Ochseninseln«, sprach er verkündend und zerrte mich vom tanzenden Pulk weg. »Komm mit, ich zeig dir was«, fuhr er fort und zeigte mit seinem Arm ausbreitend in die Nacht. Ich dachte: Wenn du bis hier gegangen bist, dann gehe noch einen Schritt weiter. Nur einen einzigen. Weiter wärst du alleine nie gegangen.

Mir wurde flau.

Wir kamen zum Wasser, etwas abgelegen und ich sah ein Boot mit zwei Paddeln. Warum auch immer, aber ich war unfähig, ihm zu sagen, dass ich ihn für einen abgedrehten Spinner hielt, der sein Christian-Kracht-Faserland-Ende mal schön alleine durchziehen sollte. Aber es war unangebracht. Die Insel war zu klein für Heldenmut, die Musik zu gut, die Drinks zu flüssig und die Einsamkeit zu zweit.

Der Alkohol wirkte, Pierre ruderte ziemlich geschmeidig und wortlos zum dänischen Festland. Lille Okseø – Sønderhav: Flüssiger Traum in der Flensburger Förde unter sternenklarem Himmel, hinter uns die Soundkulisse des Ø. Ich rauchte eine Zigarette und starrte in die dunkle Kuppel, die uns umgab wie ein viel zu großes Kostüm. Pierre telefonierte auf Französisch. Jedes Wort versank unverstanden in meinen Ohren. In diesem Bild war irgendetwas verkehrt angeordnet. Und je länger man hinsah, desto weniger dachte man an den Fehler. Es war als hätte die Form den Inhalt besiegt.