Das 75-Prozent-Gefühl

Allgemein

Meine Schwester starb in der Nacht zum 3. April 2012. Mein Telefon klingelte zwei Tage später um 9:17 Uhr. Ich hatte mich im Büro gerade an meinen Schreibtisch gesetzt und »Scheiße« gesagt. Dass irgendwas passierte sein musste, fühlte ich schon. Irgendetwas nicht Sichtbares schwang mit dem Klingeln mit, etwas endgültig Verändertes. Als hätte man einen Stuhl verrückt, ein Kandinsky-Gemälde verkehrt herum aufgehängt oder ein paar Moleküle im Raum heimlich ausgetauscht.

»Bastian… es ist was mit Jule. Es ist etwas passiert…«, brachte mein Vater unter großer Kraftanstrengung hervor.

Mir wurde heiß-kalt im Gesicht; ein nicht definierbares Kribbeln entstand im emotionalen Zentrum meines Gehirns und schoss dann mit ungeahnter Geschwindigkeit durch meine Blutbahnen, drückte die roten und weißen Blutkörperchen zur Seite, verdrängte das Plasma wie eine Gewehrkugel, die im Wasser einschlug und schlagartig in einen sinkenden Schwebeflug überging, und machte sich im Körper breit. Selbst in meinen Fingerspitzen kam es an. In meinem Magen sammelte sich dieses Kribbeln dann wie ein großer Haufen Materie, den irgendetwas zusammenhielt.

»Jule ist tot«, drang immer wieder in mein Ohr und Schluchzen.

Ich war wie lahm gelegt, konnte nicht mal mehr zuhören und dachte die ganze Zeit an das Kribbeln in meinem Bauch, und woher ich es kannte. In meinem Kopf erschienen Achterbahnfahrten, die ich mit meinem Vater im Freizeitpark Plänterwald machte. Ich sah mich schreiend den großen Looping meistern. Dort in diesem Looping, spürte ich bei meiner ersten Fahrt dieses Kribbeln das allererste Mal. Es war so intensiv, dass es sich sofort und auf ewig in meinem Gedächtnis festsetzen sollte. Ich sah Zuckerwatte und kandierte Äpfel, sah die schmutzigen Fingernägel des Mitarbeiters am Streichelzoo, der Tierfutter in kegelförmigen Papiertüten verkaufte, das irgendwie Ähnlichkeit mit Krümeltee hatte. Jedes Mal, wenn ich mir an heißen Sommertagen Krümeltee mit Zitronen- oder Pfirsichgeschmack machte, dachte ich an dieses Tierfutter und die schmutzigen Fingernägel. Ich wurde älter und älter, aber diese sonderbare Assoziation blieb irgendwie übrig und wuchs mit mir mit.

»Papa ist tot«, wiederholte meine Schwester. Ich merkte ihrer Stimme an, wie fassungslos sie war und wie unfair plötzlich alles in ihren Augen auf dieser Welt erscheinen musste. Oder war es andersherum? Mein Vater, meine Schwester? Ich hatte die Orientierung zwischen den wichtigsten Rollen meiner Familie verloren. Mein Gehirn ging in den Sinkflug über. Irgendwo im Nirgendwo. Ach ja, meine Schwester.

»Jule ist tot, Bastian, ihr ist etwas zugestoßen.«

Dieser Satz donnerte in meinem Ohr, erschütterte das Bild der einfahrenden Achterbahn, und brachte ein neues Bild vor meinen Augen zutage, als hätte man auf einen alten Fernseher geschlagen um das graue Geriesel aus dem Bild zu bekommen, aber stattdessen wechselte nur lautknackend der Kanal.

In meinem Kopf erschien ein heller, sonniger Tag aus meiner Grundschulzeit – ich muss in die vierte oder fünfte Klasse gegangen sein – und wurde nach Schulschluss auf meinem Hof von ein paar Älteren, die in die sechste oder siebte Klasse gingen, verprügelt. Ich spielte gerade mit einem Jungen, der mit seiner Familie eine Etage über uns wohnte, Fußball gegen eine Wand. Wir waren im gleichen Alter. Und plötzlich kamen sie auf uns zu, umzingelten mich und nahmen mir den Fußball weg. Einer den älteren Jungs schoss ein paar Mal auf die Wand, gegen die ich gerade noch gespielt hatte, nahm den Ball schließlich auf und schoss den Ball über das Hoftor auf die Straße, die zu meiner Schule führte. Er knallte auf ein Autodach und sprang in ein Gebüsch.

Ich sah mich hilfesuchend um, aber mein Kumpel war stiften gegangen, vermutlich weil er ebenso die Hose voll hatte wie ich, und weil er vermutlich seinen Fußball retten wollte, ehe sich einer von den umher stehenden Älteren diesen unter den Nagel reißen konnte. Kameradenschwein. Ich versuchte wegzulaufen, durchbrach den Ring des Verbrechertumults und rannte quer über den Hof. Obwohl ich immer einer der Sportlichsten meiner Klasse war, hatte ich keine Chance wegzulaufen. Sie jagten mich wie einen Hasen hin und her, verteilten sich überall, um Hofausgänge, die es in diesem Plattenbauviertel ja reichlich gab, und das Tor zu versperren. Sie kesselten mich schließlich ein und trieben mich schließlich an einen verschlossenen Hofeingang. Sie fingen an mich zu schubsen und zu ohrfeigen. Es stellte sich heraus, dass einer von den Älteren, der mir munter eine Backpfeife nach der anderen ins Gesicht hämmerte, während die anderen mich festhielten und auslachten, und sich gegenseitig anfeuerten, einen kleinen Bruder hatte, der eine Klasse unter mir war. Ich hatte diesen Jungen mehrfach schikaniert und geohrfeigt, weil er immer so ein dämliches, nicht abstellbares Grinsen im Gesicht hatte und bei jedem Scheiß anfing zu heulen. Er sah aus wie eine Miniaturausgabe von Kai Ebel, diesem Formel-1-Typen, der immer so absurd hässliche Krawattenmuster in Senf- oder Neonfarbe zu seiner Bronzebräune trug, und irgendwo zwischen wohlgenährt und ausgeschlafen genervte Formel-1-Fahrer und Teamchefs mit einer Endzeithektik in den Boxengassen mit völlig verblödeten Interviewfragen tyrannisierte:

»Hält Damon Hill dem psychischen Druck stand, den Michael Schumacher schon die ganze Saison sensationell auf ihn ausübt?«; Fragen solchen Kalibers krochen aus seinem Moderatoren-Mund und ich dachte »Oh mein Gott

Und diese kleine Kai-Ebel-Puppe hatte mich natürlich bei seinem großen Bruder verpfiffen, von dem ich natürlich bis dato nichts wusste. Dass sie mich in diesem Hofzugang aufmischten, hatte ich mir also selbst eingebrockt. Und während sie mich durchschüttelten, schubsten, ohrfeigten und mir Magenschwinger verpassten, stand ich völlig gelähmt und gedemütigt mit rotem Kopf da, völlig verängstigt und spürte wieder dieses Kribbeln im Bauch.

»Jule ist tot.«

Wann immer dieses Kribbeln in der Magengegend kam, ich konzentrierte mich vollends darauf, es zu fühlen. Ich konnte nie einen Schritt davon zurücktreten und dieses Gefühl irgendwie erklärbar machen oder ergründen. In den folgenden Jahren gab es noch reichlich Prügel auf den Berliner Straßen. Ich verpasste immer den Augenblick und wenn ich doch daran dachte, dann war das Zeitfenster bereits geschlossen, die Achterbahn fuhr in die Ein- und Ausstiegsgerade ein oder ein paar ältere und stärkere Jungs ließen mich heulend mit rotgeklatschten Backen und Nasenbluten in einem Hofeingang liegen.

»Papa«, rief ich in solchen Augenblicken immer. Es waren jedoch immer Augenblicke, in denen er mir nicht antworten konnte.

»Jule ist tot.« Rief mein Vater nun Bastian?

Mir blieb alles im Halse stecken, ich fand keine Worte und schwieg meinen Vater an, der diesen Satz in meiner Erinnerung immer wieder apathisch zu wiederholen schien. Ich konnte ihn förmlich vor mir sehen, wie er mit seinem Handy irgendwo auf einem Stuhl, Hocker oder Sessel saß, beide Füße auf dem Boden. Ich sah meinen Vater nie weinen, aber in diesem Augenblick waren wir uns ganz nahe. Nähe, die sich wie ein Rettungsnetz unter meinem Fall aufspannte. Seine Nasenlöcher waren vollkommen verstopft, so verstopft, dass das viele Hochziehen schon im Ansatz verreckte. Seine Augen waren zugeschwollen; in seinem Gesicht zeichneten sich der ganze Kummer, die Trauer und der Schmerz ab, hinterließen tiefe Furchen, die vermutlich bis an sein Lebensende als kleine Fältchen zurückbleiben würden. Ich sah, wie sein Kopf wackelte, verneinend, so als würde er das Geschehene einfach leugnen und so umkehrbar machen; als würde er das alles nicht so akzeptieren und nach Kompromissen suchen. Dieses latente, unkontrollierte Kopfschütteln, als wäre er innerhalb von endlos langen Sekunden ein alter senil gewordene Mann, als wäre er bis tief ins Knochenmark traumatisiert worden, das tat mir weh, sehr weh. Aus meiner ehemals vierköpfigen Familie wurde schlagartig ein 75-Prozent-Gefühl.

»Jule ist tot.«

Ich legte auf, zögerte kurz und schmiss das Telefon in einem Anfall von Angst mit aller Kraft durch die Dunkelheit dieses Tages, durch die Helligkeit der Nacht, durch die scheiß unendlichen Weiten des Universums, einfach nur weit, weit weg von mir. Vorbei an allem, das durch meinen Orbit trieb; vorbei an meiner Mutter, die kreidebleich am Küchentisch neben meinem Vaters saß, die Hände vor den Mund gefaltet, so als würde sie das Undenkbare, das Unaussprechbare mit der letzten Kraft, die ihr blieb, in sich gefangen halten, auf ewig einkerkern, ihre Augen weit aufgerissen, glasig und ruhend auf der Erinnerung ihrer Tochter; vorbei an meinem Vater, der nicht mitbekommen hatte, dass ich das Telefonat längst beendet hatte, und der seinen Satz immer weiter aufsagte, vermutlich noch einige Stunden lang, das Tuten in der Leitung ignorierend, sich immer wieder mit zittriger Hand die Fingernägel ins Knie kneifend bis es blutete, bis es weh tat, um die Tür zur Realität noch einen kleinen Spalt offenzuhalten. Es knallte, die Tür krachte ins Schloss und Teile meines Handys, das an der Wand zerschellte, fielen in Zeitlupe zu Boden und verstummten. An der Wand blieb ein dunkler Fleck, ein Abrieb, ein Resultat der Wucht, mit der ich das Handy warf.

Ich ließ mich zurück in meinen Bürostuhl fallen. Mein Herz schlug so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt. Das Kribbeln in meinem Magen stieg orgastisch an, ich krampfte kurz.

»Jule ist tot«, verhallte es leise an den Wänden, kondensierte am Fenster.

Dann schlief ich ein. Die Kraft, die ich benötigte, konnte ich nicht in der Realität sammeln. Die Realität wurde zu einem unbewohnbaren Ort für mich, den es zurück zu erobern galt. Trotz des 75-Prozent-Gefühls und trotz der Krawatten von Kai Ebel.