Die weiße Stadt

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Ein paar Tage später wurde er von einem guten Freund auf dem kleinen Rasenstück im Innenhof seines Blocks gefunden. Ohne Hose lag er mit dem Gesicht nach unten in seinem Erbrochenen. Es hatte geregnet. Der Notarzt sagte, es sei Dehydrierung. Wenig später saß er dann am Flughafen Tegel, wartend auf den Check-In und kaute auf einem Gurke-Quark-Brötchen herum. Der Flieger nach Belgrad hatte eine knappe Stunde Verspätung.

In Belgrad lernte er vor dem stillgelegten Museum für moderne Kunst Saša kennen, der seinen Labrador-Mischling durch das wuchernde Unkraut jagte. Nach einem kurzen Smalltalk in gebrochenem Englisch, gab man sich die Hand und sprach über das Leben. Wie einfach manchmal das Eine zum Anderen führte. Saša war serbischer Rechtsanwalt, vertrat straffällig gewordene Türken und vermisste seine Frau, die im Norden Montenegros in einem kleinen Ort namens Herceg Novi Longdrinks im Aurora servierte. Auf der Stadtmauer betranken sich die Beiden mit serbischem Bier und aßen Kolumbo – die balkanische Interpretation der Schweizer Toblerone – und beobachteten den Sonnenuntergang. Alles war kitschig und voller Substanz.

Saša bat ihn, ihn bei seinem Montenegro-Kurzurlaub zu begleiten. Er hatte dort ein kleines Landhaus in Rose, einem verschlafenen Örtchen an der Küste der Halbinsel Luštica. Dort komme man entweder auf andere Gedanken oder man ließe das Denken gleich ganz sein, meinte er. Zwei Tage später saßen Beide in einem klapprigen Motorflugzeug und dachten an nichts. Sašas Vater Slavko wartete schweigend am Flughafen Tivat und beobachtete mit finsterer Miene Taxifahrer, die sich auf ankommende Touristen stürzten. Während der ganzen Fahrt nach Rose wurde kein Wort gewechselt. Im Radio lief Eros Ramazzotti, Schafe flankierten die schmale Landstraße.

Slavko war elffacher jugoslawischer Champion im Bodybuilding und 1972 der achtstärkste Mann der Welt. Er hackte in seiner Freizeit viel Holz, angelte gerne und liebte seinen selbstgebrannten Traubenschnaps, den er schweigend und immer noch grimmig dreinschauend in drei schmutzige Gläser eingoss. Am nächsten Morgen lagen zwei Männer auf einem kleinen Rasenstück mit dem Gesicht nach unten in ihrem Erbrochenen. Alkoholschwangere Déjà-Vus in der sengenden Morgenhitze. Eine Schildkröte versteckt sich unter einem Surfbrett, das zu ihren Köpfen in der Sonne azurblau vor sich hin brutzelte. Die Zeit schien verschwunden zu sein.

Ein paar Tage später verabschiedete er sich von Saša und dessen Vater Slavko, der nach dem Rakija-Besäufnis echte Sympathien für den traurigen Deutschen – wie er ihn nannte – entwickelt hatte, und flog alleine zurück nach Belgrad. Während des Fluges war er unsicher, was real war und was nicht. Er konnte nicht ausmachen, ob er mit der Wirklichkeit kämpfte oder ob sich die Wirklichkeit an ihm die Zähne ausbiss. Abends kehrte er bei einem Nachtspaziergang durch die Skadarska in der Red Bar ein. Er hatte seit seiner Landung starke Kopfschmerzen und konnte nicht einschlafen.

Er setzte das Glas an und dachte kurz nach. Daran, wie er als kleines Kind mit einer grünen Plastikschaufel von allen Seiten auf Sandburgen eingedroschen hatte. Sein Verständnis von Symmetrie hatte die Farbe Gelb. Dieser Gedanke kam ihm damals schon merkwürdig vor. In einem Zug leerte er sein Glas und biss unter einem lauten Knirschen auf den übrig gebliebenen Eiswürfeln herum. Er fischte ein paar Dinar aus der Tasche und warf sie auf den Bartresen. Es wird schon reichen, dachte er achtlos. Er verließ die Bar langsamen Schrittes und steuerte die östlich gelegene Festung an der Save-Mündung an, die er mit Saša von der Festungsmauer aus beobachtet hatte. Die warme Nachtluft ordnete seine Frisur neu. Drei Monate gingen hier ins Land. Seine Gedanken versickerten langsam in den Straßen von Belgrad. Im Gedränge an einer Kreuzung verschoben sich in seinem Gehirn ein paar Moleküle. Er bemerkte nicht, wie er mitten auf der Straße stehen blieb, während die Ampel für Fußgänger schon auf Rot zurück- oder vorgesprungen war. Er achtete weder auf das Hupen der Autos, noch auf die ersten Fahrer, die sich ungeduldig aus runter gekurbelten Scheiben lehnten und serbische Flüche in die vom Laternenlicht orange gefärbten Straßen brüllten. Er merkte nicht, wie seine Knie unter seinem Körpergewicht langsam einknickten, spürte nicht wie sein Schädel auf den warmen Asphalt schlug. Er lag einfach nur abgeschottet vom Diesseits mit weit aufgerissenen Augen und schnell schlagendem Herzen da, während die ersten Menschen aus den angrenzenden Bars strömten, die ersten Passanten panisch telefonierend auf die Kreuzung rannten um nach ihm zu sehen. Zwischen der ganzen Hektik, dem Menschenauflauf und der nahenden Sirene eines Krankenwagens, hatte er eine seltsame Antwort gefunden.